Lieber D.,
entschuldige bitte die lange Briefpause. Die Bauarbeiten verschlucken uns, ständig gibt es Verzögerungen durch wahnsinnig werdende Nachbarn oder eine plötzliche Flut an Feiertagen, die die Baustelle vorübergehend stilllegen.
Du und P., Ihr macht Quantensprünge. Neulich, zur Rush Hour, sind wir in die U-Bahn eingestiegen. Du guckst mich nur kurz an, sagst: „I will sitzen!“ und begibst dich allein auf die Suche nach einem freien Platz. Ich muss bei P. und ihrem Wagen bleiben, verfolge dich mit den Augen. Ganz ganz weit hinten findest du einen Sitzplatz. Die Leute um dich herum sind irritiert. Ist der Zweijährige hier allein unterwegs? Ist dir vollkommen egal, wie sie dich anstarren. Du schaust aus dem Fenster, als sei da etwas Besonderes zu sehen, dabei ist das die U9, und die verläuft hier unterirdisch, also durch nichts als Schwärze.
Du träumst noch immer viel. Und sprichst jetzt immer mehr. Zum Frühstück willst du „Bami“ (Salami) oder „Ladebötchen“ (Marmeladebrötchen). Danach sagst du: „Bim fertig“ und „Bomm mit!“, und ziehst uns auf den Teppich, damit wir was mit dir bauen. Meistens Duplo. Manchmal Schienen. Oft auch Häuser aus den bunten Polstern, die ich dreißig Mal am Tag aufräume bei meinem schrecklich erwachsenen Kampf gegen das Chaos. Zwischendurch singst du selbstkomponierte Songs und begleitest dich dabei auf deiner schwarzen Ukulele, die wir im Musikhaus Bading gekauft haben, kurz bevor das abgebrannt ist. Du singst: „Maijäjä, maijäjä, tuut, tuut, tuut!“ – „Maijä“, so nennst du deinen Schnuller. Seit du ein bisschen reden kannst, nennst du ihn so. Keiner von uns weiß, warum. Und dann gibt es noch „Baijäjä“: Das bezeichnet alles, was blöd ist. Salat ist zum Beispiel „baijäjä“. Hunde sind „baijäjä“. Der Spielplatz nebenan ist „baijäjä“, weils da kein ordentliches Klettergerüst gibt. Und auch die ganze Welt kann „baijäjä“ sein – dann nämlich, wenn du müde bist, meistens nach dem Kinderladen. Dann setz ich dich in den Wagen und nehme P. da raus, damit du schlafen kannst. Stattdessen guckst du dir aber meistens die unmittelbare Umgebung an und rufst alle paar Meter so laut wie es nur geht. „Hau mal!!“ (Schau mal). Dein Vater und ich haben uns eine Zeit lang einen Spaß daraus gemacht und auf alles drauf gehauen, wenn du das gerufen hast. Aber das magst du gar nicht, wenn wir das machen, das findest du „baijäjä“. Die „Heuerwehr“ ist das Größte für dich. Wenn die an uns vorbeifährt, starrst du ihr noch ewig hinterher und singst dabei leise, „tatü tataa, Heuerwehr daa!“. Wir haben eine Spielzeug“heuerwehr“ aus Lego. Neulich hast du sie die ganze Zeit ganz nah an deine Augen gehalten und an deine Ohren und immerzu gesagt: „I da reingehen!“, und dann irgendwann: „Geht nich!“… Mittags willst du am liebsten „Nokki“ oder Maultaschen essen. „I das essen?“, fragst du ganz oft. Bei Ausnahme-Gummibärchen alle zwei Sekunden: „I noch mehr?“ Wenn du den Laptop entdeckst, willst du dringend „Heuer Häm“ sehen (Feuerwehrmann Sam), und wenn das nicht geht, stapelst du die Polster übereinander, legst dich drunter und rufst „Hülfe, Hülfe!“, damit „Heuer Häm“ kommt und dich aus den tosenden bunten Wellen rettet. Am Wochenende fährst du am liebsten mit dem „Hänger“ oder mit dem „Aucho“ (Auto) auf den Bauernhof, über den wir unter der Woche dreißigtausend Bücher lesen. Manchmal treffen wir da deine kleine Freundin Z. aus Neukölln, die ihre Fruchtquetschen mit dir teilt und Kühe fast noch mehr mag als du. Du erzählst ihr dann vom „Bache“ und vom „Locho“, dem besten Spielplatz und dem besten Schwimmbad der Stadt. Und vom „Ententeich“, in den du schon gesprungen bist, als wir mal eine Sekunde lang nicht aufgepasst haben. Du wirst immer schneller, bist ein Höhenspringer, ein Seiltänzer und ein Weltenbummler. Und obwohl hier ein riesiges Chaos herrscht, spricht niemand das Wort „Zuhause“ schöner aus als du.
Du baust dir deine eigene Sprache, deine eigenen Lieder, deine eigenen Häuser. Ich freu mich unfassbar auf jedes neue Wort aus deinem Mund.
„Züss“, mein kleiner D., „bis nachher“ am „Bache“,
Deine A.