Liebe P.,
heute fuhren wir mit dem Bus, du und ich, von Endstation zu Endstation. Ich musste auf eines der düsteren Berliner Ämter, aber ich mag solche Unternehmungen mit dir. Du wickelst die Menschen sofort um den Finger. Vorhin zum Beispiel, den alten Mann mit der beige-gelben Jacke und den beige-gelben Haaren, der erst fluchend den Bus betritt. Ich sehe ihn an und schließe Wetten mit mir selbst ab, zähle rückwärts, zehn, neun, acht, sieben, da treffen sich eure Blicke und das faltige Gesicht wird mit seinem Lächeln richtig glatt gezogen. Zuerst wehrt er sich dagegen, aber dann hast du ihn.
Anders als bei den Großen ist dir nichts unangenehm. Du weichst den Blicken nicht aus, du suchst sie. Und das macht diese Leute so fertig. Leute, die schon so viel und so lange gelebt haben, dass sie tatsächlich glauben, die Welt bereits zu kennen und die deshalb nichts mehr von ihr erwarten oder nichts mehr in sie hinein geben; ich kann’s nicht wissen, aber so stell ich mir das vor, wenn ich mir ihre Gesichter ansehe. Man spürt beinahe, wie fertig sie das macht, dein vollkommen unvoreingenommenes Lächeln, sodass sie meistens reden müssen, um irgendetwas lauter sein zu lassen als ihre Verlegenheit. Und dann sagen sie so etwas wie „Mädchen oder Junge?“ oder sie verschätzen sich: „6 Monate?“, sehen mich dabei an. Ich antworte immer so knapp wie möglich, damit du sie weiter aufmischst und sie an ihre Menschlichkeit erinnerst und daran, dass der Tag anders enden kann als erwartet.
Unsere Hinfahrt endet in Lichtenrade. Das ist ein schwieriger Ort. Plattenwüste. Unzählige KiK- und Sportwetten-Läden. Gegenüber des Busbahnhofs steht ein Haus leer, das an ein Jagdhaus mitten im Wald erinnert. Landhaus Lichtenrade steht drauf, die Buchstaben wirken müde, sie sind sehr blass. Dahinter wieder einige Reihen Plattenbau und noch weiter hinten buckelt ein Gebäudekoloss gegen den Himmel; er ist aus dunklem Backstein, sieht aus, als würde er an einem Hafen stehen. Ich finde später heraus, dass das Gebäude 120 Jahre alt ist und eine Mälzerei der Schöneberger Schlossbrauerei war, die wegen des Gestanks aber ausgelagert wurde. Wir fahren mit deinem Kinderwagen parallel zur Umzäunung und weil hier niemand ist, fange ich an, mit dir zu reden. Stell dir mal vor, wir würden hier wohnen. Ich zeige auf den Riesen und du folgst meinem Finger. Stell dir mal vor, wie sich das da drinnen anhört, wenn etwas auf den Boden fällt. Oder wie verloren unsere Sachen dort wären – D.’s zehn Zentimeter großes Polizeiauto, wie es mit Blaulicht und Tatütata einen Einsatz durch eine fußballfeldgroße Halle fährt. Wie du wohl mal lebst? Ich glaube, ich selbst hatte nie große Ansprüche. Außer, dass ich etwas oberhalb wohnen und mich auf eine Fensterbank setzen und die Beine baumeln lassen wollte. So ein Platz zum Ausatmen. So ein Platz, an dem immer alles gut ist. Den wünsch ich dir später auch mal.
Wir waren schon einmal hier. Du machst große Augen, vielleicht erinnerst auch du dich. Zusammen mit D., an einem dieser verregneten Wintertage, da sah das alles hier so trostlos aus, dass wir sofort wieder kehrt machten mit der S-Bahn, die heute aber nicht fährt: Auf einer weißen Tafel heißt es, die Bauarbeiten dauern bis Ende April. Auf einer anderen Tafel steht, dass hier 200 Wohnungen entstehen. Wir sehen uns die Menschen an, die hier wohnen. Sie sehen wirklich überhaupt nicht glücklich aus, ihre Münder scheinen verknotet, sie nehmen von uns keine Notiz. Etwas später im Bürgeramt platzt der Knoten dann doch noch: Die Leute, die hier ja vor allem Nummern sind und die darauf warten, aufgerufen zu werden, sehen dir beim Essen zu. Über deinem Mund hängt ein bisschen rote Sauce, du schaust auf und lächelst sie an. Oberhalb unserer Köpfe hängt die Tafel mit den Zahlen. Mit uns sind es zehn Wartende und alle fangen an zu lächeln und zu reden. „Mädchen oder Junge?“, fragen sie. „Mädchen“, antworte ich und übergebe dir das Gespräch. Bis wir aufgerufen werden mit einem freundlichen Dingdong: 22701.