Südsee und Sibirien

Liebe P., lieber D.,

wir leben jetzt seit etwa vier Monaten auf der Baustelle. Na gut, Baustelle, das klingt wie bröckelnder Betonboden zwischen nackten Durchbrüchen und Nebelschwaden, die bei jedem Atemzug vor den vier Mündern aufziehen. Nein, ganz so schlimm ist es nicht. Hier und da steht ein Ölradiator. Der Raum, in dem wir uns zu viert meist aufhalten, ist nicht klein. Aber wir sind die Abwesenheit von Rückzugsorten nicht gewohnt. Wir, die beiden „Erwachsenen“ in der Familie. Und so kommt es zu Missverständnissen, zu Auseinandersetzungen, die der extremen Unterschiedlichkeit zweier Figuren in einer Geschichte geschuldet sind. Wenn zwei Leute plötzlich eine Familie haben und noch dazu nicht ausschließlich in dem Job arbeiten, den sie eigentlich über alles lieben, dann können Explosionen stattfinden. Explosionen in Köpfen, die schon immer damit beschäftigt waren, möglichst alles richtig zu machen und gerade deshalb vielleicht vieles falsch machten. Eure beiden Eltern, zwei von so seltsam unterschiedlichem Perfektionismus Verfolgte. Einerseits ähnlich. Andererseits wie Wasser und Feuer, wie Sonne und Mond, wie Südsee und Sibirien (Sibirien bin ich). Da gibt es ein schwarzes Loch des Sich-nicht-gut-genug-kennens, das wir ganz nebenbei zu füllen haben. Neben dem Alltag. Neben dem unablässigen Organisieren der Dinge, die für einen funktionierenden Ablauf des Alltags notwendig sind. Manchmal kippe ich. Und das müsst Ihr wissen: Mir tut jedes Geräusch leid, dass über die durchschnittliche Pegellinie hinausragt. Mir tut jedes Weinen leid. Und jedes Türenschlagen. Wir vier sind oft glücklich. Und manchmal unglücklich. Gerade in dieser Zeit auf unserer Baustelle, die notwendig macht, dass wir so eng zusammen rücken müssen, dass die Luft dünner zu werden scheint. Vieles hat mit Gewohnheiten aus der Vergangenheit zu tun. Als wir noch für uns allein Verantwortung trugen. Jede Phase im Leben, müsst Ihr wissen, ist Weinen und Lachen. Ist Aufstehen und Hinfallen. Ist Schlucken und Weitermachen. Oder Ausspucken und Verändern. Und wenn eine Phase radikal beendet wird, dann fängt eine andere Phase radikal an. Weiter geht es immer. Am schönsten ist es, wenn wir lachen. Aber wie besessen lachen. Und klatschen. Über den Dingen. Keine bereits vorhandenen Fußstapfen, sondern alles neu. Anders denken. Gegen Redewendungen. Gegen Angemessenheit. Gegen Einrichtungshäuser und Gebrauchsanweisungen. Einen großen Schritt nach draußen machen und dann das Kalte wegtanzen, I’m so happy because today, I’ve found my friends, yeaheaheaheahhhhh. Einer bestimmten, viel zu tiefen Art von Streit, bin ich immer aus dem Weg gegangen. Früher hab ich angefangen zu tanzen, bevor es böse werden konnte. Habe angefangen zu tanzen, bevor es traurig werden konnte. Tanzend zu tanzen oder schreibend zu tanzen, ganz egal. Und jetzt bin ich manchmal überfordert damit, dass Schwierigkeiten vorab nicht wegzukriegen sind in diesem System Familie. Dass man sich dem auszusetzen hat und nicht mehr in den Wolken leben darf. Dass man zu einem vernünftigen Ergebnis kommen muss. Und was ich eigentlich sagen will ist, dass ich mich für jedes zu laute Wort von mir bei euch entschuldige. Und dass ich an das unablässige Lernen vom Leben glaube (inzwischen). Dass ich mich auf jedes Vertragen mit jedem von uns freue, auch wenn der Weg bis dahin irgendetwas zwischen granit- und silbergrau (zitiert aus D.s Malkasten) sein könnte.

Mit der Baustelle verschwindet die Enge. Dann tanzen wir erstmal.

Eure A

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s