Halali

Liebe P.,

zwei Wochen geht das nun schon so, und jetzt haben wir beschlossen, ihn einfach zu behalten.

In der ersten Nacht habe ich mich fürchterlich erschreckt. Er flatterte hektisch auf, als ich das Licht anknipste, um dich zu wickeln. Ich erkannte ihn sofort wieder. Er hatte vor ein paar Monaten, da warst du noch im Bauch, schon einmal hier übernachtet, war aber gleich am nächsten Tag verschwunden. Ich bin mir sicher, dass es derselbe ist, er hat nämlich einen grünen Punkt auf dem rechten Flügel, und das ist untypisch, das weiß ich von einem befreundeten Insektenforscher. Jetzt ist er also wieder aufgetaucht. Aber anders als beim letzten Mal will er nicht mehr gehen. Seit zwei Wochen. Jede Nacht zwischen eins und zwei wird er aktiv und flattert am Fenster entlang und dabei macht es andauernd klack, klack. Er weckt uns nicht, wir sind ohnehin ständig wach, machen die Nächte durch, erzählen uns Geschichten, hören Musik. Aber dieses Tier ist riesengroß. Und wenn ich die Augen schließe, stelle ich mir vor, wie es auf den geschlossenen Lidern landet und mit ausgebreiteten Flügeln fast das halbe Gesicht bedeckt.

Ich habe alles versucht. Abends Glas und Pappe bereitgestellt. Kerzen auf dem Balkon angezündet, in der Hoffnung, er fliegt durch die geöffnete Tür ins Freie. Tagsüber habe ich ihn gesucht. Überall, vor allem im Bücherregal, denn dort sehe ich ihn in den frühen Morgenstunden zum letzten Mal, wenn er sich meistens auf der obersten Bücherreihe in der dicken Staubschicht verbuddelt, um in der nächsten Nacht wieder aufzutauchen, klack, klack. Am liebsten hätte ich die anderen geweckt, um ihnen zu zeigen, wie groß das Ding wirklich ist. Aber dein Bruder schläft gerade nicht gut, deshalb passt dein Vater im Nebenzimmer auf ihn auf und beruhigt ihn, wenn er aus seinen verrückten Träumen hochschreckt. „Eure Mutter hat Angst vor Schmetterlingen“, tönt es morgends durch die Wohnung, nachdem ich von der Nacht berichte. Aber nein, Angst ist das falsche Wort. Dieses Tier ist nur so nervös und flattrig, und das macht mich eben auch nervös und flattrig. Ich muss gestehen, ein Mal hätte ich es beinahe umgebracht. Das ständige Durchmachen kann anstrengend sein, und da ist dieses klack, klack manchmal einfach eins zuviel. Aber das Ding ist schnell und es wirft sich im Flug immer dahin, wo man es nicht erwartet.

Gestern Nacht, als ich von der erfolglosen Jagd zurückkam, da hast du mich breit und mit großen Augen angegrinst. Ich verstand, dass sich dieses drei Monate alte Mädchen gerade mächtig über mich lustig machte. Also gab ich lieber auf. Und erzählte dir noch die Geschichte von einem Nachtfalter, der in einem Neuköllner Altbau in drei Metern Höhe auf einem Bücherregal und unter einer weichen Staubdecke ein neues Zuhause gefunden hatte. Er hat einen grünen Punkt auf dem rechten Flügel, und das ist untypisch, obwohl ich überhaupt keinen Insektenforscher kenne. Während der Geschichte bist du endlich eingeschlafen.

Deine A.

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