Liebe P.,
draußen wird es kälter, Herbst und Winter stehen vor der Tür und ich freue mich – wie jedes Jahr – so sehr auf den grauen Himmel über Berlin. Dein Vater kann das überhaupt nicht verstehen, und die meisten anderen auch nicht. Aber dieses Grau passt eben gut nach einem solchen Jahr, das – wie jedes Jahr – so ungeheuer voll war, atemlos und ohrenbetäubend laut: Anschläge in London, Brüssel, Istanbul, Turku, Barcelona, Paris, Kabul… Jeden Tag das Warten auf einen neuen Grusel-Tweet des amerikanischen Präsidenten. Ein kleines Kind in Nordkorea spielt mit Massenvernichtungswaffen. Waldbrände, Unwetter, Überschwemmungen, Erdrutsche; Naturkatastrophen von einer Wucht wie nie zuvor. Wenn ein Jahr wie dieses langsam zu Ende geht, liegt Müdigkeit in der Luft. Die ganze Welt kann nicht mehr, der Horizont verdreht die Augen, Regennetze decken die Häuser zu und alle sichtbaren Menschen laufen viel langsamer als sonst. Auch wir, du und ich, auf unseren Streifzügen durchs Viertel.
Du kommst in der Wohnung kaum zur Ruhe, also sind wir viel draußen, wo ich dir das Bekannte zeige oder wir uns zusammen über Neues wundern. Gerade zum Beispiel sind unsere Spazierstrecken von mehr oder weniger bunten Wahlplakaten gesäumt. Ich schwanke da immer zwischen einem Angewidertsein und einer Neugier, will also nicht, muss aber hinsehen. Am 24. September sind Wahlen. Du bist nun seit knapp drei Monaten auf der Welt und damit gehört deinesgleichen unbedingt zum Inhalt dieser Aushänge, die uns alle paar Meter verschiedene Botschaften entgegenbrüllen.
Auf einem Plakat ist ein Baby abgebildet, das zumindest beim Fotoshooting noch viel jünger war als du jetzt, ich schätze vielleicht zehn, vierzehn Tage. Die Augen des Babys sind geschlossen, es liegt in den Armen einer AfD-Politikerin, die seine Mutter ist, und daneben steht: „Und was ist ihr Grund, für Deutschland zu kämpfen?“ Ich kann meinen Blick nicht von diesem Baby lösen, es wirkt, obwohl die Absicht der Kampagne klar ist, so beängstigend deplatziert. Es hat keine Ahnung, was vor sich geht. So wie du keine Ahnung hast, was das alles soll: „Für Sicherheit und Ordnung“ – „Zukunft wird aus Mut gemacht.“ – „Schulranzen verändern die Welt.“ – „Es ist Zeit für mehr Gerechtigkeit“ – …
Warum fühle ich mich wie ein Alien? Oder jedenfalls wie jemand, der auf keinen Fall zu den Angesprochenen gehört, also nicht Teil der Gesellschaft ist? Was wollen sie erreichen mit den leeren Hülsen oder den ausgetüftelten Ich-bin-doch-nicht-blöd-Strategien? Soll ich tatsächlich auf einem unserer Spaziergänge lesen: „Kinder fordern Eltern. Wir fördern Eltern“, und daraufhin denken: Hey! Das ist es, die wähl ich! – ?Überall geistert gerade der Satz umher, dass Politiker und Bürger nicht mehr ein- und dieselbe Sprache sprechen. War das jemals anders? Alle vier Jahre könnte der Eindruck entstehen, dass sich die Parteien im Wahlkampf grundsätzlich verkrampfen. Dass sie auf Teufel komm raus die Sprache des Volkes sprechen wollen und vor lauter Struktur- und Taktik- und Manipulationsfragen ihre eigene Menschlichkeit vergessen.
Beim Durchlesen der Parteiprogramme warte ich vergeblich darauf, dass irgendetwas einrastet. Dass es in die Tiefe geht. Dass also ein Thema nicht nur aufgeblasen, sondern auch ausgefüllt wird. Wahrscheinlich ist das nicht einfach, wenn man den möglichst größten gemeinsamen Nenner zu erreichen versucht. Aber lässt es sich nicht anders machen als so, wie es immer gemacht wurde? Beziehungsweise sind zum Beispiel Wahlplakate, die unendlich viel Geld kosten, um nach ein paar Wochen wieder entsorgt zu werden, überhaupt noch zeitgemäß, wenn sie als das, was sie doch eigentlich sein sollten, nämlich eine Brücke zwischen der komplexen Vorstufe des Parteiprogramms und dem „kleinen Mann“ kein bisschen funktionieren? Und überhaupt: Auf sämtlichen Plakaten sind immer irgendwelche Köpfe abgebildet. Vielleicht ist das ja eines der Hauptprobleme. Dass man, anstatt konkrete Themen zu diskutieren, nur noch farblich passend gekleidete Personen zur Diskussion und zur Wahl stellt und dass bei aller heruntergebrochenen Komplexität die Sprache und das Verständnis zwischen Politik und Volk verlorengeht…
Ich würde dir gern noch versuchen zu erklären, warum ich nicht weiß, was ich tun soll am 24. September, wenn du und ich die Wahlkabine in der Peter-Petersen-Schule betreten. Aber deine Stirn zieht sich zusammen und dein Gesicht wird ganz rot. Du brauchst keine Parolen, du brauchst Milch. Wenigstens wir verstehen uns.
Deine A.