Fünf Sterne

Liebe P.,

du bist in etwas ganz schön Anstrengendes hineingeboren, kleine Dame. Wenn ich mir Fotos ansehe von früher, als ich so winzig war wie du jetzt, dann wünsch ich mir das alles irgendwie zurück, obwohl ich Nostalgie eigentlich überhaupt nicht leiden kann. Aber vielleicht wäre es netter für euch Kinder. Ein Leben ohne Netz, ohne Selbstoptimierung, ohne Konkurrenzkämpfe. Und ohne Daten, die ein Mensch, sogar ein so kleiner wie du, mit dem ersten Herzschlag produziert und die unmittelbar erfasst und für immer gespeichert werden.

Ungefähr zehn Tage nach deiner Geburt kam ein (immerhin analoger) Brief, der an dich gerichtet war. Ich hatte ein bisschen Skrupel, ihn zu öffnen. Schließlich war er ja für dich und Briefgeheimnis ist Briefgeheimnis. Was ich dann da herauszog, machte mich ein wenig fassungslos: Was zum Teufel? Jetzt schon? Sie ist gerade auf der Welt und Ihr weist diesem Wesen, das noch nicht klar sehen kann und vollkommen geschockt ist von plöztlicher Kälte und Helligkeit, eine Steueridentifikationsnummer zu, die sie lange vor der Entdeckung aller Sinne und Farben an das Ödeste erinnert, was das Leben zu bieten hat, nämlich Steuererklärungen abzugeben? –

Lieber D.,

kleiner Mann: wie viele Stunden wir uns schlapp gegegoogelt haben, um herauszufinden, was das Beste für dich ist. Säuglingsnahrung mit fünf Sternen. Babysitze mit fünf Sternen. Windeln mit fünf Sternen. Kinderärzte, die hinter den Punkten Behandlung, Aufklärung, Vertrauensverhältnis, genommene Zeit und Parkplatzsituation überall bis auf Letzteres bestmöglich abschnitten. Und dort, bei der bestmöglichen Praxis, notierte der bestmögliche Arzt seine Messungen auf der Patientenseite, die deinen Namen trug, und dann zeigte er uns Wachstums- und Verhaltenskurven und wo darin du dich befandest. Und wir sahen uns ein wenig verwirrt an, dein Vater und ich, und googelten weiter: Alles normal? Ich suchte ausgerechnet in den unendlichen Internetweiten eine Antwort auf die Frage, ob es dir gut geht.

Mag jetzt übertrieben klingen und wenn ich ehrlich bin, übertreibe ich gerade auch. Aber andererseits auch wieder nicht. All diese Zahlen rund um die Entwicklung und all diese Maßstäbe, an denen Ihr Euch selbst jetzt schon messen lassen müsst… Auf Spielplätzen – während du gerade einen Bauchklatscher von der Rutsche machst – werde ich mit Blick auf dich angesprochen: Spricht er auch schon? Und ich antworte nicht, sondern gucke und lache dir zu, jeder Schritt, den du machst und die Zeigefinder, die in alle interessanten Richtungen schnellen…

Und liebe P.,

ich habe es heute schon wieder gemacht: Dich gewogen auf unserer läppischen Grundig Küchenwaage, nur, um sicher zu gehen, dass du zwischen irgendwelchen Kurven im grünen Bereich liegst. Dabei müsste ich dich nur ansehen und wüsste, dass du ok bist…

Und lieber D.,

ich habe es heute schon wieder gemacht: Nachgesehen im Internet, wann es normal ist, zu sprechen und wie man das Sprachzentrum von Kleinkindern fördern kann respektive „welche Spiele Spaß machen und zugleich das Sprachzentrum anregen“…

Und lieber D. und liebe P.,

VERSPROCHEN: Ich google nicht mehr. Ich höre damit auf. Ich bewege mich weg von Handy und Laptop, wenn Ihr wach und bei mir seid. Ich reiße mich endgültig los vom Bildschirm – und dem Finanzamt teile ich auf diesem Weg mit, dass ich P.s und D.s Steuernummern für mich behalte, solange sie ihre Kindheit genießen! Guten Tag,

Eure A

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