Liebe P.,
es passiert, dass ich mit dir durch die Straßen laufe und ganz unvorbereitet auf jemanden stoße, den ich lange nicht gesehen habe. Der oder die kann dann gar nicht fassen, was passiert ist. Und nach einigen belanglosen Sätzen, die man gesagt hat, um aus einer unguten Stille einen ebenso unguten, aber erträglicheren Lärm zu machen, kommt irgendwann die Frage meines Gegenübers, ob das, was da an meinem Bauch schläft, nicht alles extrem verändert habe, gewissermaßen „das ganze Leben“…
Weißt du, P.: Alle haben das gesagt. Kinder würden „das ganze Leben verändern“. Mir hat das irgendwie Angst gemacht, ich meine, das klang ja beinahe nach „Gehirnwäsche“. Einmal, nachdem dein Bruder D. auf der Welt war, da hat irgendwer in einem bestimmten Zusammenhang „Mutti“ zu mir gesagt. Ich glaube, das war, weil eine Freundin „Muttis“ als Komparsen für ihren Film gesucht hat, und da ich eine „Mutti“ war, kam ich dafür auch in Frage. Aber genau das ist es: Die verbreitete Annahme, Kinder veränderten alles, erlaubt die Produktion neuer Labels, die plötzlich an meiner Stirn festpappen und sich nicht mehr lösen lassen, egal, was man tut. Und was überhaupt sollten Muttis noch groß tun oder ausrichten können? Dabei will ich dir und D. doch auf Augenhöhe begegnen, von der Welt erzählen und in sämtliche Pfützen springen – als „A.“. Und nicht als „Mutti“.
Ich schüttle inzwischen den Kopf, wenn die Frage kommt, ob sich nicht alles im Leben verändert hat. „Nein“, sage ich. „Eigentlich hat sich das Leben überhaupt nicht verändert. Kein bisschen. Null Komma null. Echt nicht. Nur dass solche Fragen gestellt werden, das ist neu.“ Und wenn ich länger darüber nachdenke und ein bisschen weniger leicht reizbar bin, dann denke ich an die Verantwortung. Dass sich die Verantwortung geändert hat, die man ja immer für irgendetwas trägt. Für sich, für die Arbeit, für die Geschichte, die man erzählt und für die Welt, in der man lebt. Ja, das ist es, was sich verändert. Eigentlich ist mir die Bedeutung des Wortes „Verantwortung“ erst richtig klar, seit Ihr da seid. Ich trage für dich und für D. eine Verantwortung, die sehr viel weitere Kreise zieht. Es ist etwas Größeres, das mit mir selbst am Ende gar nicht so viel zu tun hat. Es ist so eine Art selbstverständliches Großwerden – ich stelle mich vor und hinter euch. Ich verteidige euch und ich denke daran, was zu tun ist, damit es euch gut geht; bin, wenn Gefahr droht, weniger eine „Mutti“ als vielleicht eine Löwin.
Vor ein paar Tagen waren wir zusammen im Tierpark Friedrichsfelde. Die Löwin habe ich nicht fotografiert. Aber dafür die Rentiere. Die haben Geweihe (s. Foto) und tragen ihr Junges 230 Tage im Bauch.
Und übermorgen bist du schon 9 Wochen auf der Welt!
Deine A.