Liebe P.,
seit deiner Geburt verbringst du die Tage damit, dich uns vorzustellen. Ja, genau so ist es. Du siehst uns an, du folgst mit deinen Augen der Rassel, die D. dir überlassen hat, weil er selbst inzwischen lieber an Wänden hochklettert. Du bist immer da, mit aller Aufmerksamkeit. Das, was du sehen kannst, wird klarer und weiter. Es ist wie ein Auftauchen, ich weiß noch: den Begriff hatte ich vor zwei Jahren, als D. gerade so groß war wie du, auch ständig im Kopf…
Eigentlich dürfte es so etwas wie „Alltag“ in unseren Gedanken über diese Zeit nicht geben, wenn ich nur genau genug hinsehe, denn jeden Tag verändert sich der Ausdruck in deinem kleinen Gesicht. Jeden Tag werden deine Augen größer. Jeden Tag wird dein Lachen heller und deine Forderung nach Milch, Schlaf oder Streichelminuten schärfer. Deine Stimme, die ganz am Anfang noch im Verkehr der Hermannstraße untergegangen ist, setzt sich inzwischen durch, immer und überall.
Als ich noch nicht wusste, was mir mit euch passieren wird, da habe ich mir immer einen zusätzlichen Raum gewünscht. Ganz egal, wo ich gelebt habe, ob in dem winzigen Kinderzimmer irgendwo im katholischen Bayern, in der 6er Studenten-Wiesenstraßen-WG, in einem bad- und küchelosen Atelier am Prenzlauer Berg oder in meiner Mini-Mitte-Wohnung: Ich habe mir immer gewünscht, dass sich irgendwo eine Tür auftut, und dahinter ist ein komplett weißes Zimmer, ohne irgendetwas drin und ich setze mich in irgendeine Ecke und fülle diese ganze Leere mit Musik, die aus den Kopfhörern kommt. Oder aus kleinen Boxen, die so schlecht sind, dass man sich den abwesenden Rest selber herbeidenken darf. Wo man allein ist und am Rand steht und sich seine gerade geschehende aber pausierende Geschichte von außen betrachtet und eigentlich nur froh darüber sein kann, weil man nie zu den Plastikmenschen gehört hat.
…are we’re flying already cause were not gone
Who was first? You or me? It is mind blowing
I’ve been leaving already ‚cause I’m not gone
Going home is no option
There’s still wind blowing …
So what makes youuuu strong?
Seit du und D. da seid, ist auch irgendwie dieser Raum da. Die Tage passieren nicht mehr einfach nur so. Nachts, wenn du mich mit deinen Füßchen trittst, weil du etwas trinken willst, dann wache ich auf und tue alles, was ich jetzt tun muss und sehe dich an und denke dabei die ganze Geschichte von vorne. Denke an den seltsamen Ausflug in den Harz und wie alles wurde, was es ist. Denke an Tränen und an Lachanfälle, denke jedenfalls an alles, sitze in dem weißen Raum, den ich mir immer gewünscht habe, höre Musik und erzähle dir alles, was mir einfällt. Irgendwann schlafen wir ein. Und beim nächsten Aufwachen geht alles anders von vorne los.
Deine A.