Liebe P., lieber D.,
in den ersten Mai-Tagen gibt es April-Wetter. Regen, Sonne, Regen, Sonne. Ihr schreit dreimal „Regenbogen!“. Steht dabei auf Stühlen, die ihr ans Fenster geschoben habt. Zeigt auf den bunten Bogen am Himmel, der wie ein Hoffnungsschimmer ist und viel zu schnell verschwindet.
Ich will ja vernünftig sein. Aber irgendwann kann ich nicht mehr. Fahre mit dir, P., dorthin, wo es Bücher gibt, verspreche, aufzupassen, nehme für dich einen Mundschutz mit, den unsere Nachbarin für euch genäht hat. Du lachst die ganze Zeit, während du dir auf dem Fahrradsitz die Welt anschaust. Obwohl hier jede Menge Menschen und Autos und Lautstärke sind, höre ich, wie du sagst: „Hier ist ja gar kein Corona!“ Es ist lange her, seit wir das letzte Mal durch die Schlossstraße geradelt sind. Deine Wangen sind ganz rot vor lauter Freude, ich höre ständig dein Kichern, sehe, wie du mir alles zeigst mit deinen kleinen Fingern.
„Das geht so nicht!“
Kurz vor den Büchern will ich dir den Mundschutz überziehen. Du sagst: „Mama. Das geht so nicht!“ Rupfst dir den Stoff runter und rennst in Richtung Kinderbuchabteilung. Wie kann ich dir das erklären? Wie kann ich dir beibringen, dass du dich nicht frei bewegen darfst? Wie kann ich dir beibringen, dass die ältere Dame am Unterhaltungsregal so böse guckt – erst zu mir und dann zu dir? – Bitte nichts anfassen! Nein, nicht zu den anderen Kindern gehen! Nein, wir kaufen nur ein Buch und gehen gleich wieder! – Du brauchst lange für deine Erkundung. Mir wird schwummrig unter dem Stoff, die Luft steht. Ich glaube, hierherzukommen, war eine schlechte Idee. Aber du: Rennst von einem Buchhaufen zum nächsten, schreist, lachst, rufst, wie schön das ist, mal woanders zu sein, mal andere bunte Sachen zu sehen als immer nur Regenbogen, die viel zu schnell verschwinden. Am Ende willst du gar nichts mitnehmen. Nur dein Lachen. Und du willst Fahrradfahren und auf die Lebendigkeiten in der Welt zeigen, mit deinen kleinen Fingern.
„Ich bin ein Ritter“

D., du magst deinen Schlafanzug nicht mehr ausziehen. Schreist, wenn Kleinigkeiten nicht funktionieren. Heute war Anis in einem Brötchen, das hat dich stinkwütend gemacht. Ich hab dich in den Arm genommen und gefragt, ob wir am Wochenende einen Ausflug machen. Das hat dich noch wütender gemacht. Du schlägst um dich, in deinem Schlafanzug. Du willst raus und willst doch nicht raus, wenn das nur bedeutet, dass ich jogge und du auf deinem Fahrrad neben mir her fährst und niemals anhältst, auch nicht, wenn wir Gleichaltrige sehen oder an Spielplätzen vorbeikommen. Du willst und willst doch nicht mit den Großeltern telefonieren, wenn das nur heißt, dass du sie am Bildschirm siehst, sonst aber für lange Zeit nicht. Du willst mit Opa Willi angeln gehen und nicht still hier sitzen und erzählen über die ohnehin schon zu Ende gegangenen letzten Tage. Was soll dieses Sprechen und Sich-Sehen vorm Bildschirm, wenn man dabei nicht richtig zusammen sein kann?, fragst du mit deinen ziemlich traurigen, zornigen Augen und schreist viel mehr als sonst und weißt selbst nicht so genau, woher das kommt, weil du dafür irgendwie doch noch zu klein bist. („Ich bin nicht klein! Ich bin ein Ritter!“)
Ich schaue oft in den Himmel
Anfang Mai, 2020. Es gibt Ausgangsbeschränkungen. Es gibt die Maskenpflicht. Wir gehen uns aus dem Weg. Menschen machen einander Vorwürfe, weil sie den Umgang der anderen mit der Situation verurteilen. Es wird denunziert. Geschrei auf der Straße am helllichten Tag. Andere Menschen von links, von rechts und aus der Mitte demonstrieren mit ihren gestrigen Erzfeind*innen einträchtig an der Volksbühne, zehn Kilometer von hier, gegen die Maßnahmen und sprühen irgendwelche Theorien in die Luft, das alles sei eine Erfindung von Merkel oder die Heraufbeschwörung eines Lockdowns zugunsten irgendeiner Militäroperation. Ich schaue oft in den Himmel. Da fliegen Vögel, die verhalten sich wie immer. Schauen sich die ganze Sache von oben an und entscheiden sich heute mal gegen die Landung. Nichts ist sicher. Nichts ist eindeutig. Und vor allem: Niemand weiß, wann es aufhört. Vor dem Hintergrund, dass jeder Schritt nach draußen, jeder Gang in den Supermarkt, jede Bewegung an der Grenze zum Erlaubten mit einer enormen Anspannung getan wird, denke ich an die Zeit, in der alles ganz normal war, in der wir uns mit Freund*innen verabredeten, verreisten, abends zusammensaßen mit Wein, während die Kinder müde vom Spielen auf unserem Schoß wegdämmerten. Und in dieser alles dominierenden Begrenzung wird mir die Bedeutung von Freiheit wieder bewusst. Die Freiheit, die uns immer so selbstverständlich erschien und die aber kein bisschen selbstverständlich ist. Auch ohne Corona nicht.
Keine perfekte Mutter
Ich würde euch gerne so viele Geschichten erzählen. Würde euch gerne Orte zeigen, die sehr anders sind als dieser hier. Mit der Pandemie verkleinert sich der Raum auch im Kopf. Bei aller Nachbarschaftshilfe merke ich, dass sich viele Menschen noch krasser als vorher ins Private zurückziehen. Es ist eine seltsame Schockstarre, ein kollektiver Stillstand, aus dem wir uns hinausbewegen müssen, auch wenn diese Krankheit noch lange bleiben wird.
Ich gehe also zu dir, D., und überrede dich über eine halbe Stunde lang, dir eine Jeans anzuziehen. Weil heute ein neuer Tag ist. Weil wir viel tun können. Weil wir mit Büchern verreisen, Geschichten erzählen können, weil wir in 1,5 Meter Entfernung mit der alten Frau vorm Altersheim reden können, weil wir zum Wasserturm fahren können und weil nichts so aussieht wie es gestern ausgesehen hat.
Ich habe keine rote Linie. Ich bin oft fahrig, keine perfekte Mutter, überfordert oder zu verträumt für diese Situation. Aber zieht jetzt bitte eure Schlafanzüge aus und dann machen wir das Beste aus diesem Tag.
Eure A.