Piraten

Lieber D., liebe P.,

euer Papa hat euch vor einigen Monaten erzählt, dass er und ich Piraten waren, lange bevor ihr zu uns gekommen seid. Seitdem glaubt ihr fest an die Geschichte.

Neulich hast du, D., in meinem Schrank so einen schmalen geflochtenen Gürtel gefunden, den ich nie trage. Du bist mit großen Augen zu mir gekommen. Hast erst nichts gesagt, mich nur angesehen. Und dann, irgendwann, gefragt: Mama. Ist der Gürtel da in deinem Schrank noch aus deiner Piratenzeit? Ich wusste erst nicht, worum es ging, folgte dir zu meinem Kleiderschrank und du zeigtest – noch immer mit großen Augen – auf diesen Gürtel, den du nur halb rausgezogen und dann voller Ehrfurcht liegengelassen hattest. Ja, sagte ich. Der muss noch von damals sein, ist ja lustig, dass es den noch gibt. – Deine großen Augen.

Wenn ihr diese Briefe irgendwann lest, dann werdet ihr euch längst ausgerechnet haben, dass Papa und ich keine Piraten waren – jedenfalls nicht im wahrsten Sinne des Wortes: Deshalb bin ich jetzt sehr ehrlich: Am Anfang wollte ich diese Piratengeschichte gar nicht mitspielen. Und wisst ihr, warum? Weil sie von Papa war! Und weil ich hier doch die Geschichtenerzählerin bin und nicht Papa und weil ich ein bisschen neidisch war, dass diese Piratensache bei euch so gut ankam – im Gegensatz zu meinen improvisierten Storys über das Paralleleben der Gelbaugenpinguine im Kühlschrank (Insider)… Naja. Mittlerweile spiele ich mit. Und ich mag Papa’s Piratengeschichte sehr, vor allem, weil sie sehr viel Wahres an sich hat. Und weil man euch zusammen mit den Piraten drauf vorbereiten kann, dass das Leben an Bord manchmal ziemlich anstrengend ist.

Weil: Irgendwann seid ihr auch Piraten. Und dann heuert ihr irgendwo an und denkt, das sei ein Schiff mit vielen tollen verschiedenen Menschen, die alle ein großes Ziel haben und alle an einem Strang ziehen und alle abends zusammen tanzen und einander nix Böses wollen. Es könnte allerdings mal passieren, dass ihr merkt, dass sich nicht immer alle so einig sind. Weder über das Ziel noch über den Weg. Dann seid ihr also auf diesem Schiff und plötzlich kommt ein heftiger Sturm auf. Und spätestens jetzt seht ihr, dass es ziemlich viel Missgunst gibt und auch ziemlich viel Misstrauen und dass es manchmal wirklich schwierig ist, zwischen den Stühlen zu sitzen und zu versuchen, die Leute davon zu überzeugen, dass es alle ganz gut haben könnten, wenn sie sich bei aller Verschiedenheit vertrauen und nicht immer alles mit schlechten Erlebnissen in ihren Vergangenheiten verbinden und schließlich eine subjektive für die objektive Wahrheit halten.

Ich hab als Piratin superviele Fehler gemacht, schätze ich. Papa sicher genauso. Machen wohl die meisten. Ihr später auch. Dann könnt ihr draus lernen. Aber versucht bitte, bei allem, was euch passiert oder bei jedem Fehler, den ihr selber macht, niemals in so einer Art Verbitterung stehenzubleiben. Verbitterte Menschen verlieren die Offenheit für gute Momente. Und die können euch bis zum Ende begleiten: Gute Momente, die schwer zu formulierende Antworten auf eine Frage geben, die ihr mir auf eure Weise jeden Tag stellt: Warum sind wir eigentlich da?

Ach, klingt übel, ich weiß – deshalb hab ich in den ganzen letzten Briefen diese triefend amerikanischen Ratschläge von Groß nach Klein immer vermieden. Ich mach das nur heute. Weil mir danach ist. Aber ich verspreche euch, dass es eine Ausnahme bleibt, ok?

 

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