Lieber D., liebe P.,
Ein Sonntag aus dem Bilderbuch.
Wir sind auf dem Weg ins Südgelände, zum Lichterfest. Das Südgelände ist ein ehemaliger Rangierbahnhof, mittlerweile zum Park umfunktioniert.
Gleise ziehen sich durch die 18 Hektar große Fläche. Sie sind von Moos und Unkraut überzogen, unzählige Birken erstrecken sich in gefühlt alle Richtungen. Der zu den oberen sich noch in Betrieb befindenden S-Bahnschienen parallel verlaufende Kiesweg wird von einer Steinmauer begleitet, die sich von Tag zu Tag verändert. Hier sind ziemlich coole Sprayer unterwegs. Und ihr liebt das, an den knalligen Graffitis entlang zu gehen, obwohl es immer heftig nach Lack stinkt.
Heute ist alles in „Weihnachts-Mood“ getaucht. Die vordere Wiese steht voll mit Lichtern. Unterm alten Bahnbogen haben sie eine Lasershow installiert, rote und grüne Punkte, die in Gruppen über die Betonwände rasen, um sich dann in den Ecken wieder zu verlieren. P., du drehst vollkommen durch. „(G)Litzer! (G)Litzer!“, rufst du und versuchst mit deiner kleinen Neuköllner Freundin die flüchtigen Blitze zu erwischen.
Auf dem Hinweg sind wir am AVK vorbeigekommen, genauer an der Säuglingsstation. Gute Freunde von uns sind dabei, und Du, D., hast heute ein für Dich untypisches Mitteilungsbedürfnis. Obwohl, nein, untypisch ist das eigentlich nicht. Nur braucht es immer länger als bei P., bis Du Menschen so richtig vertraust und dann auch anfängst, sie in Deine verrückte, große, bunte Welt aufzunehmen. Es ist jetzt soweit. Du guckst sie an und zeigst auf das unscheinbare grau verputzte 50er Jahre Gebäude und schreist: „Hier! Hier bin ich zur Welt geboren!“ Und ich denke, als wir längst weiter schlendern, dass das ein ziemlich schöner Satz ist. Zur Welt geboren sein. Das klingt so, als könnte man noch woanders hin geboren werden als zur Welt. Die Formulierung hat irgendetwas mit Freiheit zu tun, sie beruhigt mich jedenfalls und ich lächle dich an und als du das bemerkst, gibst du dein verschmitztestes Lächeln zurück und dabei werden die kleinen Wangen ganz rot, was auch an der Kälte liegen könnte…
Ein Sonntag aus dem Bilderbuch? Ich habe den Mitgekommenen im Vorfeld eine Art Lindgren’s Winterwonderland versprochen. Das kann ich ganz gut, wenn ich mich selbst auf etwas freue und unbedingt möchte, dass gute Freundinnen und Freunde dabei sind. Am Ende wird alles anders. Ein Kind fällt ins Wasser. Ein Kind fällt in die (ausgekühlte!) Kohle. Alle verlieren sich in absurden Menschenmassen, die wir hier so noch nie erlebt haben. Der Glühwein ist alle. Und ich rauche nicht mehr, was das Ganze nicht entspannter macht. P, du liegst im Café auf dem Holzboden und willst nicht, dass ich deine nassen Sachen ausziehe, du grölst zwischen Schreien: „Das docknet wieder!“
Am Ende, nachdem schon eine keine Gruppe vorab geflüchtet ist, finden sich die Übriggebliebenen am Ausgang, wo die Parkwächterinnen stehen mit leuchtenden Gesichtern, die dringend widerspiegeln wollen, dass es für uns ein wundervoller Abend gewesen sein muss. Wir grinsen wie besessen zurück. Schlendern nach Hause. Drei von neun schreien. Ein okayer Schnitt.
Ich werfe dem Herrn mit der Zigarette schließlich noch einen neiderfüllten, hämischen, ja, verzweifelten Blick zu. Am Ende des Tages in absoluter Stille eine Zigarette und ein Glas Wein … mit dem man dem Mond zuprostet … und sich auf ein, zwei Stunden Pause freut – auch damit ist es jetzt vorbei. Zu Weihnachten wünsche ich mir eine Packung Salzstangen, von denen eine Einzelne so hart ist, dass der vollständige Konsum ebenso lange dauert wie eine selbstgedrehte Zigarette, also etwa 7 Minuten, in denen man gute Gedanken hat und alles einfach nur in Ordnung ist.
Kein Sonntag aus dem Bilderbuch. Aber nächste Woche soll es schneien. Die Märchenzeit hat gerade erst angefangen. Wir machen daraus noch das Beste, versprochen.