Arktisch

Liebe P., lieber D.,

Berlin am 7. Januar 2021. Ich komme nicht mehr zum Briefeschreiben. Viel zu viel Zeit ist vergangen. Die Tage sehen seit Ewigkeiten gleich aus: Ich stehe zwischen sechs und halb sieben auf, nachdem du, P., so unruhig bist und mir andauernd in den Arm kneifst, wie du es als ganz kleines Baby schon gemacht hast. Du sagst: „Es ist schon Morgen.“ Was so viel heißen soll wie: Aufstehen. Jetzt sofort. Kaffee machen (du meinst Milch}. Und aus dem Fenster gucken. Wir hören dann Deutschlandfunk übers Handy. Jeden Morgen. Neue Coronazahlen. Neue Tendenzen.

Dein Zimmer ist noch immer nicht fertiggebaut. Dafür bleibt einfach keine Zeit. Deshalb schläfst du hier. Gegen zwei Uhr in der Nacht kommst auch du, D., dazu. Gerade in letzter Zeit träumst du verrückte Sachen, rennst verwirrt ins Elternbett. Wir beruhigen dich dann; ich schlafe meistens nicht mehr weiter. Alles dreht sich.

Bei minus 10 Grad

Gestern Nacht gab es plötzlich Sturm. Ich hab ihm zugehört. Und überhaupt sind diese Kälte und dieser Schnee gerade eine Art vorübergehende Rettung. Sie öffnen die Hermetik einer normalen Familie im Pandemie-Alltag. Wenn man keine Menschen treffen darf, verkapselt so ein System. Die Haut wird dünner, das Nervenkostüm auch. Es knallt wegen nichts vor lauter Stillstand und Ausbleiben von Lichtern am Tunnelende. Und plötzlich schneit es wie verrückt, wird kälter und kälter. Ich liebe diesen Schnee. Wie alles weiß und weißer wird. Still. Zugedeckt. Wie ihr am Fenster steht und staunt. Wie ihr darum bettelt, bei minus zehn Grad mit dem Schlitten zum Insulaner zu gehen. Wie ihr schreit vor Freude – endlich. Endlich lacht ihr mal wieder.

Wir erschrecken uns

Vorgestern warst du, P., plötzlich ganz ruhig. Das ist selten. Du lagst auf dem Sofa und sagtest: „Mit Corona wird die Welt so klein.“ – Und du, D., sagtest heute: „Wenn Corona ein Mensch wäre, würde ich ihn kaputtschlagen.“ Papa und ich erschrecken uns, wenn wir das hören. Alle meinen immer, dass Kinder sich allem so gut anpassen können. Und klar: Sie beklagen sich nicht. Sie haben andere Wege. Sind irgendwie stiller, in Gedanken verloren.

Ihr tut, was wir euch sagen: Geht, sobald wir nach Hause kommen, ins Badezimmer und wascht euch minutenlang die Hände. Wenn eine*r von euch niest, macht ihr das wie selbstverständlich in die Armbeuge. Wenn etwas nicht geht, dann fragen wir: „Und warum geht das nicht?“, und ihr sagt gequält lachend und aus einem Mund: „Wegen Corona.“ Das soll ein Scherz sein. Aber richtig lustig ist es irgendwie nicht.

Laut sein in die richtige Richtung

Und ich muss an die anderen Kinder denken. J., eine gute Freundin, deren Sohn in eurem Kinderladen ist, betreut etwas ältere Kinder, die zum Teil aus schwierigen Verhältnissen kommen; da ist es drinnen arktisch. Nicht draußen. Wenn sie anfängt, zu erzählen, muss ich ständig schlucken. Diese Krise macht die Schwächsten schwächer. Und irgendwie scheint es unmöglich, etwas zu tun, laut zu sein in die richtige Richtung.

Vorhin bin ich kurz eine Runde durch den Schnee getappt. Im Display stand nämlich: „Gefühlt: minus 14 Grad“ und ich wollte wissen, wie sich das anfühlt. Es war ganz friedlich und nicht so kalt, wie ich dachte. Wenige Autos. Schneetreiben unter Straßenlampen. Ein paar ganz glücklich aussehende Menschen – ja, wirklich. Am Dürerplatz haben viele Kinder mit vielen Eltern eine Schneeballschlacht gemacht und ich verdränge zum ziemlich ersten Mal diese ganzen Gedanken: Dürfen die das? Das sind doch viel zu viele? Hoffentlich geht das gut… usw. usf. Ich stand einfach kurz da und hab zugeguckt. Und dann, einen Kilometer weiter – ich war fast schon zu Hause – da liefen drei Jungs mit Schlitten in Richtung Insulaner. Konspiratives Treffen von drei Pubertierenden, die am Sonntagabend mal nicht zocken, mal nicht Clubhouse-Talk machen, mal nicht Netflix & Chill. Sondern Schlittenfahren. Ich hab sie angelacht und noch ein Foto vom Gehweg gemacht.

Jetzt

Alle sind k.o. Alle unterschätzen das. Und zugleich: Wir sehen irgendwie nicht, was Leben eigentlich bedeutet. Wenn die Zukunft derartig unsicher ist, tendiert man noch mehr als ohnehin dazu, die Gegenwart aus den Augen zu verlieren.

Ich verspreche euch, dass ich versuche, das nicht zu tun. Dass ich mich darum bemühe, so viele richtig schöne Jetzt-Momente mit euch hinzukriegen wie möglich. Hab euch unfassbar lieb.

Eure A.

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