Das Allergrößte

Lieber D.,

aus diesem Tag hätte man ein Musikvideo zusammenschneiden können – mit ganz viel in Zeitlupe lachenden Kindern, lachenden Eltern, Fahrrädern, Wolken, die über Neukölln hinwegziehen. Dabei ist die Musik leise und laut zugleich, Múm oder Sigur Ros oder so etwas. 

Du und deine Schwester und wir, fahrend auf dem Tempelhofer Feld, so schnell es geht zwischen bunten Lenkdrachen und anderen, die sich vor dem grauen Himmel nicht scheuen und das Haus heute verlassen. Mit Gegenwind das Flugfeld rauf und runter und einmal ganz drumherum. Zwischendurch Kaffee aus Marmeladegläsern und für dich eine riesige und noch ganz warme Brezel.

„Ach übrigens“, ruft dein Vater während der Fahrt zu mir herüber, „haben wir uns eigentlich schon zum Tag der deutschen Einheit gratuliert?“ – Naja. Angesichts dessen, was vor gut einer Woche der Wahlsonntag gebracht hat, klingt die Frage zynisch. Wo seid ihr da hineingeboren? – Eigenartige Dinge gehen vor sich, weißt du? Wie kann man das erklären? Eine Partei wurde in den Bundestag gewählt, die dort bei weitem nicht hineingehört. Die unsere Freiheit einschränken und die unser Denken kontrollieren will. Manche Leute sagen, sie haben „aus Protest“ so gewählt. Aber was ist das denn, Protest? Wörtlich übersetzt bedeutet Protest ein öffentliches Bezeugen, doch was bitte ist an der Wahl des Einzelnen öffentlich? Und warum können diese Leute nicht einmal beantworten, wogegen sie protestieren. Gegen die Ausländer, sagen da welche. Und auf die Frage hin, ob sie Flüchtlinge persönlich kennen, ziehen sie ihren Kopf einen Moment zum Überlegen zurück und antworten dann mit „Nein, aber“ oder „Nö, aber“. Allein in Sachsen erreichte die Partei, von der ich spreche, siebenundzwanzig Prozent und ist jetzt dort die stärkste Kraft. „Happy Tag der deutschen Einheit!“, rufe ich laut zurück, dein Vater bedankt sich mit knappem Nicken.

Du möchtest noch ein Stück von der Brezel, ich steige dort ab, wo das riesige weiße Containerdorf beginnt, mitten auf dem Feld, unmittelbar vor den Hangars. Dann fahren wir langsam daran vorbei. „Tempohome“ steht auf einem Schild an dem Bauzaun, der die Baustelle von dem Ausflugsfeld trennt. Knapp wird darauf erklärt, dass dies einer von 30 Tempohome-Standorten ist, die derzeit gebaut werden. Bisher sind Geflüchtete vor allem in Turnhallen untergebracht. Hier haben sie wenigstens einen Container, der sich verschließen lässt. Ich blicke zurück. Du und deine Schwester, Ihr sitzt in eurem Anhänger. P. schläft friedlich, während du dir das Containerdorf anschaust, die ganze Zeit zischt dein Zeigefinger in diese Richtung und außerdem in Richtung der Hangars, die aus deiner Perspektive wahrscheinlich noch viel mächtiger aussehen. Tausend Menschen verbringen bald ihre Zeit hier mit Warten. Warten auf die Bearbeitung des Asylantrags. Einen Spielplatz für die geflüchteten Kinder soll es auch geben. Und Zäune. Und einen Wachschutz.

Gerade fängst du an zu sprechen, kurz vor deinem zweiten Geburtstag. Die ersten Worte sind Bauch, kauen, Baum, muh, mäh, tatütata, WOW, Mama, Papa und sogar unsere Vornamen. Das geht jetzt alles ganz schnell, und bald fängst du an, Fragen zu stellen. Welche Fragen werden das sein, wenn wir an einem Ort wie diesem vorbei fahren? Ich vermute, dass wir aus der Art, wie du deine Fragen stellst, mehr lernen können als du von der Antwort lernst, die wir dir geben.

Letzte Woche postete jemand im sozialen Netzwerk so einen Aufruf: Es reiche ab jetzt nicht mehr, „Refugees Welcome“-T-Shirts zu tragen oder Moonlight im Freilichtkino anzuschauen oder Hautfarben-Stifte zu kaufen. Das glaube ich auch, (kein aber).

Ich versinke in Gedanken, während der Himmel zuzieht. Du zeigst mit dem Finger dahin, wo unser Zuhause ist und rufst: Dala (für da lang)! Dein Vater und ich radeln hintereinander her. Unser Musikvideo neigt sich dem Ende zu. Die Tage werden schon kürzer. Ich schenk dir zum Abschluss dieses Briefes noch ein echtes Musikvideo, weil Hoffnungslosigkeit ja niemandem hilft und du das Allergrößte bist.

Für D.

Deine A.

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